Wer Solidarität und Fairness predigt, sollte es auch praktizieren

05.06.2021

Kirche als „advocatus diaboli“ Die katholische Caritas verweigert ihrem angestellten Pflegepersonal einen Tarifvertrag

Von Friedrich Küppersbusch

Pfleger, grüß‘ mir die Sonne! (Beziehungsweise natürlich: Pflegerin, Mond). Rund 80 Prozent des Personals in diesen Jobs ist weiblich; insgesamt 1,8 Millionen Menschen im Pflegebereich: ein Bundesland Pflege. Inzwischen gilt es als unschicklich, dem Rückenmark des deutschen Gesundheitswesens „vom Balkon zu applaudieren“, wie es anfangs der Pandemie aus vollen Herzen klatschte. Und der Spruch „Mehr Lohn statt Applaus“ hat auch schon sacht Patina angesetzt. Ok, dann eben kein Applaus, kein neuer Tarif, macht halt irgendwie weiter, Zugabe.

Tatsächlich ist der Tarifvertrag in der Pflege gescheitert. Verdi und kleinere Gewerkschaften einigten sich zwar, doch die katholische Caritas wollte dem Vertrag nicht zustimmen. Mit knapp 700 000 Beschäftigten gilt der „eingetragene Verein“ als größter privatrechtlicher Arbeitgeber Deutschlands. Und hat, kirchlichen Privilegien zu Dank: kein Streikrecht, keinen Betriebsrat, keine Betriebsverfassung. Heißt hier: Der Konzern vom lieben Gott kann freihändig einem Tarifvertrag zustimmen. Oder – höherer Einsicht folgend – eben nicht.

Der Kritik begegnen Hochwürden indigniert: Die Caritas zahle bessere Löhne als andere, man habe einem Tarifvertrag schon deshalb nicht zustimmen wollen. Stimmt: Bei Kirchens gibt es weniger Rechte für Arbeitnehmerinnen, ein Schüppchen mehr Lohn balsamiert die Entmündigung. Und solange der „Pflexit“ grassiert, also Pflegepersonal teils ausgebrannt kündigt oder gar nicht erst zu finden ist – sind bessere Löhne ein Wettbewerbsvorteil für das Unternehmen Caritas. Bei einem Flächentarifvertrag hätte Gottes Kittelkonzern die Konkurrenz nicht mehr düpieren können.

Der offenbar gottlose Sozi, Arbeitsminister Heil, hatte das unterschätzt: Er wollte den Tarifvertrag per Gesetz für die ganze Branche. Nun gibt‘s keinen. Als „work around“ einigte er sich mit Gesundheitsminister Spahn darauf, Betriebe sollten „einen Tarifvertrag“ einhalten oder doch „einem örtlichen Tarif nahekommen“. Mit linkeren Worten: Zahlt, was ihr wollt, und lasst es wie einen Unfall aussehen. Denn daran verdienen Pflegeunternehmen: Der Kasse Tarif in Rechnung stellen, doch hinterrücks die Mitarbeit billiger einkaufen. Da der Gesetzgeber auch Personalsätze vorgibt, also „wie viele Intensivpatienten muss eine Intensivpflegerin betreuen“ zum Beispiel – gibt es auch null Anreiz, Pflege besser zu machen, mehr Personal, mehr Zeit einzusetzen. Sind Patienten besonders zufrieden, wird behutsam geheilt statt gehetzt verwaltet – verdient das Krankenhaus weniger.

Die katholische Kirche braucht derzeit keine weiteren pfiffigen PR-Ideen, sich der Öffentlichkeit noch blamabler darzustellen. Selbst interne Gutachten von Sozialethikern missbilligen ihr Auftreten in der Tarifrunde. Die Pandemie hat mehr Licht auf die Lage der Branche geworfen, schon vorher las man vom „Pflegenotstand“ und so schnell wird es da kein „nachher“ geben. Es wird lauteren Gottesmenschen wenig behagen, doch immerhin wächst ihnen so die Rolle des „advocatus diaboli“ zu: die Kirche als Anwalt des Teufels. Denn wenn es so ist, wie es hier eskalierte, scheint das komplette System irreparabel. BeitragszahlerInnen und Arbeitgeber liefern immense Summen Geldes in die Kassen. Der Staat müht sich, mit teils sehr komplizierten Vorgaben Ordnung herzustellen. Und am Ende stehen Pflegekonzerne, die nicht die bestmögliche Versorgung anstreben, sondern ihrer Natur gottergeben höchsten Profit. Dass ausgerechnet die Kirche sich hervortut, den nüchternen Betrachter für „Verstaatlichung“ zu interessieren, geschieht ihr recht.

Einem Zeitgeist folgend sollten schon Autobahnen privatisiert, Universitäten kommerzialisiert, ganze Sektoren der öffentlichen Grundversorgung dem Markt überlassen werden. Oft im hohen Ton der Wanderprediger, die selig machende Weisheiten verkünden. Die aktuelle Krise der Pflege und die besondere Rolle der Kirche darin führt zur entgegengesetzten Frage: Was, zum Teufel, hat Profitgier im Gesundheitswesen und konkret in der Pflege verloren? Ihre moralische Tünche.

Wir  mischen  uns  ein,  damit  sozial  abgesicherte   und   fair   bezahlte   Arbeitsverhältnisse zur Pflicht werden.

Tarifverträge  garantieren  faire  Bezahlungen  und  schließen  Lohndumping als Wettbewerbsvorteil in einer Branche aus. Durch Tarifflucht ist die Tarifbindung in den letzten Jahren um 23 % zurückgegangen,  gleichzeitig  sind  die  Einkommensunterschiede  rapide  gestiegen.  Um  das  zukünftig  auszuschließen,  müssen  Tarifverträge  viel leichter als bisher für allgemeinverbindlich erklärt werden können.  Bund,  Länder  und  Kommunen  vergeben  jährlich  Aufträge  im  Wert  von  über  400  Mrd.  Euro.  Tariftreueregelungen,  die  die  Auftragsvergabe  an  Firmen  an  deren  Tarifbindung  koppeln,  wären  ein wichtiger Beitrag zu mehr Lohngerechtigkeit.